Diese Provinzstädte überholen Berlin als Startup-Zentrum

Berlin gilt als Deutschlands Startup-Hochburg. Eine Studie zeigt allerdings, dass der Gründergeist woanders am höchsten ist: in einer sächsischen Grenzstadt.

Erkannt, welche Stadt hier zu sehen ist? Es ist Görlitz. Die Sachsen laufen Berlin bei Neugründungen den Rang ab.
Erkannt, welche Stadt hier zu sehen ist? Es ist Görlitz. Die Sachsen laufen Berlin bei Neugründungen den Rang ab.

Franz Meinelt / EyeEm / Getty Images

Den Sachsen sagt man historisch nach, dass sie tüchtig und besonders unternehmerisch sind – manche halten sie auch für aufmüpfig. Eine Statistik scheint den Drang zum Unternehmerischen jetzt zu bestätigen. Unter den Zentren der deutschen Gründerkultur findet sich eine Region, die viele dort wohl nicht vermutet hätten: Görlitz.

Dort im östlichen Landkreis Sachsens haben sich so viele Menschen im Erwerbsalter für eine Existenzgründung entschieden wie kaum irgendwo sonst in der Republik. Der Name der Gebietskörperschaft an der Grenze zu Polen taucht jetzt im Ranking der dynamischsten Gründungszentren ganz oben auf.

Nach einer Auswertung des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn weisen nur zwei andere Orte in Deutschland mehr Existenzgründungen je 10.000 Einwohner (im erwerbsfähigen Alter) auf, nämlich die Stadt Leverkusen und der Landkreis Marburg-Biedenkopf in Hessen. Das IfM hat die Entwicklung in allen 401 Landkreisen und Städten ausgewertet und eine Karte zunehmender und abnehmender Gründungsdynamik erstellt.

Existenzgründungen sind in Deutschland auf dem Rückzug

Generell ist die unternehmerische und selbstständige Lebensform in Deutschland seit Jahren auf dem Rückzug. Verzeichneten die Statistiker Anfang des Jahrhunderts noch mehr als 500.000 Existenzgründungen, so trafen 2019, im letzten Jahr vor Corona, nur noch 266.000 Menschen die Entscheidung für einen eigenen Betrieb.

„Wir beobachten, dass die Gründungsaktivität im gewerblichen Bereich seit Jahren sinkt“, sagt Rosemarie Kay, Studienleiterin und stellvertretende Geschäftsführerin des IfM Bonn. Dieser Trend kontrastiert mit der Bedeutung schnell wachsender Startups für die deutsche Wirtschaft, ist jedoch stark ausgeprägt.

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Für den generellen Rückgang der Gründungsneigung machen die Forscher eine Kombination von Faktoren verantwortlich. Da ist zum einen die Besserung der Situation am deutschen Jobmarkt. Vor 20 Jahren lag die Arbeitslosenquote hierzulande noch über neun Prozent, rund vier Millionen Bundesbürger waren auf Stellensuche. Die Alternative einer Existenzgründung war viel naheliegender als heute, da immer mehr Branchen von einem Fachkräftemangel reden und um Mitarbeiter werben.

Aber auch die Alterung spielt eine Rolle. Ältere Menschen neigen in der Regel weniger dazu, das Risiko einer Existenzgründung einzugehen. Je mehr sich das Durchschnittsalter in Deutschland nach oben verschiebt, desto weniger Gründungen sind zu erwarten. Die Wiedereinführung der Meisterpflicht in einzelnen Gewerken und zuletzt die Corona-Pandemie haben die Dynamik weiter gedämpft, auch wenn sich im ersten Halbjahr 2021 zumindest kurzfristig ein Gegentrend abzeichnete. Im Schnitt gibt es seit zwei Dekaden Jahr für Jahr vier Prozent weniger Gründungen.

In diesen Regionen gibt es mehr Gründungen

Die Wissenschaftler richteten ihren Blick vor allem auf Kreise und Städte, in denen die Gründungsneigung nicht zurückgegangen, sondern gestiegen ist. „In fünf Regionen lässt sich eine positive Entwicklung beobachten: In den Landkreisen Görlitz, Marburg-Biedenkopf und Teltow-Fläming sowie in den Städten Leverkusen und Mülheim an der Ruhr“, berichtet Kay.

In rund 40 Prozent der Kreise hat sich die Gründungsintensität besser entwickelt als im bundesweiten Durchschnitt. Das gute Abschneiden von Görlitz überrascht dabei besonders, ist das Durchschnittsalter dort mit 49,5 Jahren eines der höchsten in der Republik. Allerdings gibt sich die Stadt an der Neiße in vieler Hinsicht innovativ. So konnten Menschen 2019 und 2020 im Rahmen des Projekts „Stadt auf Probe“ für sich herausfinden, ob Görlitz für sie als Wohn- und Arbeitsort, aber auch als Wirtschaftsstandort infrage kommt.

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„Das Projekt richtete sich vor allem an Personen, die ortsungebunden arbeiten können, zum Beispiel Selbstständige und Freischaffende. Für ihren Aufenthalt konnten sie kostenfrei Wohnungen und Arbeitsräume nutzen“, heißt es bei der Stadt.

Keine Überraschung ist dagegen die Zunahme der Gründungen rund um die Metropole Berlin. Die Hauptstadt selbst steht für eine Vielzahl von Startups und anderen Gründungen, viele davon im Dienstleistungsbereich, Industrie spielt hier keine große Rolle. Nach Berechnungen der KfW haben an der Spree zuletzt 181 von 10.000 Erwerbsfähigen jährlich eine selbstständige Tätigkeit begonnen. Als Bundesland steht Berlin damit an der Spitze. Zum Vergleich: Im zweitplatzierten Bundesland Hamburg waren es 129, im dritten Stadtstaat Bremen allerdings nur 41.

Brandenburg profitiert von Startup-Metropole Berlin

Die Dynamik in Berlin reißt auch das Umland mit, was allerdings auch damit zu tun haben dürfte, dass die Hauptstadt vielen Gründern zu teuer geworden ist. „Die überdurchschnittliche Gründungstätigkeit in Berlin hat in den letzten Jahren auf die Peripherie ausgestrahlt, wovon Brandenburg direkt profitiert hat“, sagt KfW-Ökonom Georg Metzger.

Da Brandenburg eine relativ geringe Bevölkerung von nur 2,5 Millionen Menschen hat, kommt jeder Gründung hier statistisch ein hohes Gewicht zu. So war Brandenburg im KfW-Ranking zwischenzeitlich sogar auf den zweiten Platz nach Berlin gestiegen, ist dann in der Corona-Zeit aber wieder auf Platz fünf zurückgefallen.

Das aktuell bestplatzierte Flächenland im KfW-Gründungsmonitor ist Schleswig-Holstein, das mit 120 Gründungen auf Platz drei liegt und von der geografischen Nähe zu Hamburg profitieren dürfte. Platz vier belegt Bayern mit 109 Gründungen je 10.000 Erwerbsfähige.

Prinzipiell haben große Städte aus Sicht von Existenzgründern einige Standortvorteile gegenüber dem flachen Land, zumal wenn es sich nicht um einen produzierenden Betrieb handelt. „Gründungstätigkeit in Ballungsräumen sind durch kurze Wege sowie eine hohe Personen- und Unternehmensdichte gekennzeichnet“, erklärt Metzger. Das mache sich vor allem in den Bereichen Dienstleistungen und Handel bemerkbar. Und genau in diesen Sektoren sei die Selbstständigkeit als Erwerbsform stärker verbreitet.

Startup-Ausrichtung hängt stark von Region ab

In welcher Branche die Gründer aktiv sind, hängt oft von der jeweiligen Wirtschaftsstruktur der Region ab. So wird die Gründungstätigkeit in Hamburg und Berlin stark von der Medien- und der IT-Branche mit ihren hohen Anteilen von freiberuflichen Gründern gespeist. „Eine industrielle Prägung geht dagegen eher mit einer geringeren Gründungstätigkeit einher: Großbetriebe haben typischerweise attraktive Arbeitsplätze zu bieten, die auch für potenzielle Gründer interessant sind“, sagt Metzger.

Allerdings gibt es Ausnahmen. Gerade ein technologischer Umbruch im verarbeitenden Gewerbe wie Dekarbonisierung und Elektromobilität kann dazu führen, dass in einer scheinbar etablierten Industrie plötzlich Arbeitsplätze unsicher werden und Spezialisten doch daran denken, ihr eigenes Ding zu machen.

So ist der Gründungs-Champion Leverkusen als Chemie-Standort bekannt, in der nordrhein-westfälischen Stadt hat unter anderem der Dax-Konzern Bayer seinen Sitz. Dazu kommen – häufig mittelständische – Autozulieferbetriebe, Kunststoff- und Metallverarbeiter. Viele dieser Geschäftsmodelle sind direkt vom technologischen Umbruch betroffen, der sich aus dem Primat des Klimaschutzes ergibt.

Die 164.000-Einwohner-Stadt selbst wirbt damit, dass sich um das produzierende Gewerbe herum „eine gut vernetzte Struktur aus Firmen gebildet, die insbesondere unternehmensnahe Dienstleistungen anbieten“. Der Standort sei einer attraktivsten in Deutschland, sagen die Leverkusener und berufen sich auf eine Studie der Beratungsgesellschaft Contor.

Weniger Existenzgründungen in Ostdeutschland

Dort, wo ein solches mittelständisches Netzwerk fehlt, wo es keine kurzen Wege, und auch kein enges Zusammenspiel von Fachkräften, Behörden und Institutionen gibt, haben es Gründer besonders schwer. Das erklärt, warum die ländlichen Gebiete der ostdeutschen Länder sich ganz unten im Ranking wiederfinden.

Die wenigsten Existenzgründungen verzeichnen die Statistiker in Thüringen, und zwar im Kyffhäuserkreis, im Wartburgkreis und in Sonneberg Thüringen. Pro 10.000 Erwerbsfähigen gibt es dort nur 23 bis 25 Neugründungen im Jahr, etwa ein Fünftel dessen, was Leverkusen oder Görlitz verzeichnen. „In diesen Regionen belastet eine im Durchschnitt geringere Kaufkraft die Gründungstätigkeit“, merkt KfW-Ökonom Metzger an. Aber auch die ältere Bevölkerung wirkt dämpfend. Der Kyffhäuserkreis und Sonneberg gehören zu den Regionen mit dem höchsten Durchschnittsalter der Bevölkerung.

„Die Gründungsneigung nimmt in der Regel mit dem Alter ab“, heißt in dem KfW-Bericht. Im sächsischen Görlitz hat das aber nichts daran geändert, dass dort die Dynamik hoch ist. Die Demografie scheint also nicht das letzte Wort zu sprechen, wenn es um Selbstständigkeit und unternehmerische Lebensform geht.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt.de.

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